Wie eine Wissenschaft sich selbst in Frage stellt? Im Zeitalter der Selbstdarstellung jeder Wissenschaft hat es die Mathematik besonders schwer. Der Weg der Anpassung nötigt den meisten Mathematikern große Überwindung ab.
Dicht an dicht drängen sie die baldigen Abiturienten auf dem Flur des Hörsaalgebäudes. Während drinnen die ersten Zuhörer schon das unbekannte Gefälle samt Treppen bestaunen, bevölkern immer mehr junge Menschen die Sitzbänke. Mehr als 200 sind es am Ende und alle sind auf der Suche nach dem für sie richtigen Studienfach. Heute ist die Mathematik an der Reihe, diese seltsame Wissenschaft, von der nur wenige wissen, dass man sie überhaupt studieren kann, ohne später Lehrer zu werden. Mathematik ist auch das gruselige Schulfach, bei dem mit allerlei lästigen und unbekannten Symbolen hantiert wird und am Ende das Ergebnis doppelt zu unterstreichen ist.
Großes Interesse an Mathematik, aber wenig Vorwissen
Fragt man die Zuhörer nach der Ursache ihres Besuches, so staunt man ob der verschiedenen Interessen. Da sitzen angehende Lehramtstudenten neben pragmatisch veranlagten Anhänger der „Ich will später viel Geld verdienen“-Fraktion, die von irgendjemand gehört haben, dass man dazu, ob man will oder nicht, Mathematik braucht. So richtig aber weiß niemand, was ihn erwartet und das, was der ältere Herr ganz vorne, der sich als Professor zu erkennen gab, erzählt, ist so gar nicht nach dem Geschmack der Schülerinnen und Schüler. Er stellt das Studienfach Mathematik vor, für das man viele Voraussetzungen brauche und vor allem Durchhaltevermögen. Danach erläutert er den Unterschied zwischen Schulmathematik und der Wissenschaft „Mathematik“, wie sie an den Hochschulen zu verstehen ist, anhand eines Beispiels, was eher für ratlose Blicke sorgt. Zum Schluss demonstriert der Dozent die verschiedenen Anwendungsformen und späteren Berufsmöglichkeiten der Absolventen und urplötzlich hellen sich die Mienen auf, das Interesse steigt und der Geräuschpegel sinkt. Natürlich verdiene man als Mathematiker überdurchschnittlich gut, aber so richtig in Worte fassen können die Zuhörer danach nicht, was man denn später damit anfangen könne.
Mathematikstudium und was danach?
Was der Schülerin und dem Schüler nicht bewusst ist, ist das große Dilemma einer Wissenschaft, die sich jahrzehntelang in der Rolle der „grauen Maus“ wohlfühlte. Die Anerkennung an die zu abstraktem und streng analytischem Denken befähigten Absolventen wurde eher implizit ausgedrückt, nach außen drang das selten durch. Das Schulfach Mathematik galt und gilt als schwierig, langweilig und größtenteils wird es als sinnlos erachtet, daher entschieden sich in der Vergangenheit nur jene für ein Studium, die ein grundlegendes Interesse daran hatten. Die heutige Situation der Hochschulen mit den geänderten Rahmenbedingungen, die vor allem die Konkurrenz untereinander anheizen, trifft die ehemals „graue Maus“ besonders hart. Während sich die Wirtschaftswissenschaften und Juristerei kaum selbst darstellen brauchen, es aber auch leicht könnten, die Physik und Chemie immer anschauliche Experimente ins Feld führen und Ingenieure sich kaum retten können vor Anwendungen, steht die Mathematik mit ihren eigenartigen Symbolen, griechischen Buchstaben und Berechnungen vor einem Imageproblem. Da helfen auch die Verweise auf die Optimierung in Navigationssystemen oder auf das beliebte Rätsel Sodoku nichts. Hinter Letzterem steckt übrigens ein ausgeklügeltes mathematisches Modell, in dem man den Schwierigkeitsgrad an Hand einer einzigen Variable beliebig einstellen kann.
Navigationssysteme und Soduko entspringen einfachen Mathematischen Modellen
Das fehlende Positivbild in der Gesellschaft versuchen die klugen Köpfe an den Universitäten schon seit einigen Jahren zu errichten. So wird innerhalb der Forschergemeinde immer stärker der darstellende Teil bevorzugt, bei dem konkrete Ergebnisse an ebenso konkreten Beispielen demonstriert werden. Die Methoden und deren Eigenschaften bleiben weitestgehend hinter großen Mauern versteckt. Da sieht man dann Simulationen von Laseroperationen, Segelschiffen oder Strömungen in Kanälen und fragt sich, warum das alles nicht schon früher der Mathematik zugeschrieben wurde. Die Antwort liegt in der neuzeitlichen Symbiose von Mathematikern mit Forschern anderer Richtungen, vornehmlich den Ingenieuren. Damit werden mathematische Methoden in eine für die Öffentlichkeit leicht aufzunehmende Form „übersetzt“ und veranschaulicht. Vorbei sind die Vorträge vor vollgeschriebenen Tafeln, bei denen nur die Eingeweihten die Chance hatten, die ersten Minuten zu überstehen. Heutzutage wird drauflosprogrammiert und nach Anwendungen gelechzt und nicht wenige fragen sich, ob dabei nicht etwas auf der Strecke bleibt. Die Grundlagenforschung, also diejenigen, die die Basis für spätere multimedial verwertbaren Anwendungen schaffen, stehen weiterhin vor dem Problem der immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen, denn sie sind im Wettbewerb um Drittmittel und Förderungen hoffnungslos unterlegen.
Konkurrenz belebt nicht immer das Geschäft
Dadurch entstehen natürlich Neiddebatten und Gräben zwischen den einzelnen Richtungen. Die Forschungsgebiete und Lehrstühle wetteifern um die Füllhörner und überbieten sich gegenseitig mit als „objektiv messbar“ angesehenen Dingen wie der Anzahl der Publikationen. Dass das ein seltsames Mittel der Wertung wissenschaftlicher Produktivität darstellt, ist mehr als offensichtlich, denn selbstverständlich ist der Inhalt wichtig, nicht die reine Anzahl. Von all dem berichtet der Dozent beim Schnuppertag nicht. Die Schüler und Schülerinnen gehen dennoch mit einem flauen Gefühl aus dem Saal, denn so richtig haben ihnen die letzten 90 Minuten nicht bei der Entscheidung geholfen. Mathematik bleibt ein Buch mit mindestens einem Siegel und das wird sich auch so schnell nicht ändern.