Stiftung Warentest prüfte 16 kalorienarme Stevia-Süßstoff-Produkte von Bauer, dm, Eurovera, fritz, Haribo, Knorr, Nevella, Mövenpick, Schwartau und Zentis.
Das süße Produktleben des Süßstoff-Süßkrauts Stevia rebaudiana ist nicht immer ein Zuckerschlecken: Für den Agrarwissenschaftler Dr. Udo Kienle ist der Stevia-Süßstoff ein „Wundersüßstoff“ und der „Zucker des 21. Jahrhunderts“; für den Lebensmittelchemiker Udo Pollmer ist die so genannte Stevia-Erfolgsgeschichte „in Wirklichkeit ein Flop: Stevia hat nämlich einen unangenehmen Nachgeschmack, erst lakritzartig und dann bitter, wobei die Bittere lang anhält.“ Stiftung Warentest spitzte im Schnell-Test die süßen und bitteren Geschmacksrezeptoren auf der Zunge, aktivierte in Sekundenschnelle die G-Protein-gekoppelten Signalkaskaden des guten Geschmacks und verkostete 16 kalorienarme Stevia-Süßstoff-Produktneuheiten. Sie finden den gustatorischen Testbericht der süß-bitteren Geschmackssensationen in der November-Ausgabe der Verbraucher-Zeitschrift „test“ seit dem 26. Oktober 2012 am Kiosk – neben der Lakritze. Verkostet wurden Bonbons, Erdbeer-Fruchtaufstriche, Joghurts, Kaffee, Ketchups, Konfitüren, Lakritze, Limonade, Schokolade, Süßstoff-Tabletten und Tafelsüße.
Süß-bitterer Geschmack mit normalen Süßstoffen, Stevia-Süßstoffen und Zuckern
Im Schnell-Test verkosteten drei geschulte Süßmäuler die mit den Stevia-Süßstoffen (Steviolglykoside) Rebaudiosid und Steviosid gekennzeichneten Lebensmittel. Blitzschnell prüften sie den Geruch, das Mundgefühl, sowie süße und süß-bittere Geschmacksaromen. Das Leben der geschulten Schleckermäuler war jedoch kein reines Süßstoffschlecken: Zusätzlich überprüften die Warentester weitere Inhaltsstoffe wie Fruchtzucker (Fructose), Milchzucker (Lactose) und Rohrzucker (Saccharose), schnüffelten nach Zuckeralkoholen wie Maltit und Sorbit, sowie nach weiteren Süßstoffen wie Acesulfam und Aspartam – Lebensmittel mit den Stevia-Süßstoffen Rebaudiosid und Steviosid können auch andere Süßstoffe und Zuckerarten in erheblichen Mengen enthalten.
Bittersüße Erdbeer-Geschmacksvergleiche – Originalrezeptur und Stevia-Rezeptur
Im biblischen Kapitel „Die Macht der Zunge“ fragte schon Jakobus: „Quillt auch ein Brunnen aus einem Loch süß und bitter?“ Im Vergleich von Originalrezeptur und Stevia-Rezeptur fanden die geschulten Süßmäuler zwar keinen Brunnen der süß und bitter schmeckte, aber den Schwartau-Erdbeer-Fruchtaufstrich „Wellness“ mit Stevia: Die neue Stevia-Rezeptur schmeckte gegenüber der im Juni-Heft mit Test-Qualitätsurteil „gut“ bewerteten „Konfitüre extra“ von Schwartau „weniger süß“ und „leicht bitter“. Auch andere Produktvergleiche verbitterten die geschulten Schleckermäuler durch weniger aromatische Stevia-Rezepturen – zum Beispiel bei den Bauer Erdbeer-Joghurts mit und ohne Stevia oder den Knorr Ketchups mit und ohne Stevia. Auch Limonaden wie fritz-Kola mit und ohne Stevia schmeckten „ungewohnt“ und gewöhnungsbedürftig – schon Jakobus bemerkte biblisch und geschmäcklerisch: „Und die Zunge ist auch ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit.“
Stevia-Süßstoffe passen prima zu Kaffee und Lakritze
Zehn neue Stevia-Rezepturen prüften die Warentester im Einzeltest: Auch der Erdbeer-Fruchtaufstrich „Leichte Früchte“ mit Stevia von Zentis verbitterte die Süßmäuler, dagegen passte der lakritzartige Stevia-Nachgeschmack prima zu den „Stevi-Lakritz“ von Haribo. Einen typischen Geschmack zeigte auch der Kaffee „Caffè Colombia Froddo“ von Mövenpick. Wer seinen Kaffee oder Tee kalorienfrei mit Stevia-Süßstoff-Tabletten und Stevia-Tafelsüße versüßen möchte, findet passendes unter den Stevia-Süßstoffen von dm („Das gesunde Plus“), Eurovera und Nevella. Die Stevia-Süßstoffe eignen sich auch prima zum Backen und Kochen – bei ungewohnten G-Protein-gekoppelten Geschmackssensationen hilft nur: Probieren geht über Studieren!
Der „natürliche“ Stevia-Süßstoff – die Produktion von Stevia-Blättern
Mit den Worthülsen „bio“, „biologisch“ und „natürlich“ müllen die industriellen Süßholzraspler und Werbefuzzis der Nahrungsmittelhersteller mittlerweile jeden Quadratmillimeter einer Verpackung zu, vergraulen und verunsichern jeden Kunden. Das Honigkraut Stevia rebaudiana gehört wie die Sonnenblume, der Sonnenhut und der Wasserdost zu den Korbblütlern. Steviapflanzen wachsen „natürlich“ in Brasilien und Paraguay. Recht „unnatürlich“ ist mittlerweile China das Hauptanbaugebiet der agro-industriellen Stevia-Produktion. Jährlich werden tausende von Tonnen Stevia-Blätter produziert, noch naturgemäßer Milliarden von US-Dollars mit Stevia-Produkten umgesetzt. Auch in Deutschland züchtet man an der Anpassung von Stevia-Genotypen und -Sorten für die einheimische Landwirtschaft, so zum Beispiel Dr. Udo Kienle in Hohenheim und Professor Dr. Ralf Pude – Prof. Pude ist Leiter des Forschungsbereichs „Nachwachsende Rohstoffe“ an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (siehe Bild).
Der „natürliche“ Lebensmittelzusatzstoff E 960 – die Extraktion von Rebaudiosid und Steviosid
Traditionell hergestelltes Arganöl gehört wohl zu den relativ natürlich gewonnenen Naturprodukten. Wirft man ein frisch geerntetes Stevia-Blatt in seinen Tee, süßt man wohl ganz natürlich. Ein zerkleinertes Stevia-Blatt ist von der Süßkraft her etwa 30 mal süßer als Rohrzucker aus der Zuckerrübe – so entdeckte wohl der Schweizer Botaniker Moises Giacomo Bertoni die süße Wirkung des Süßkrauts. Zerbröselt man die Stevia-Blätter, erhält man das durch Chlorophyll grünlich gefärbte Stevia-Pulver (siehe Bild). Aus diesem Stevia-Pulver werden die verschiedenen Stevia-Süßstoffe durch weitere chemische Extraktionsverfahren herausgelöst, voneinander getrennt und natürlich „industriell“ aufgereinigt. So erhält man die hoch aufgereinigten Stevia-Süßstoffe (Steviolglycoside). Die Steviolglycoside sind als Lebensmittelzusatzstoff E 960 seit dem 2. Dezember 2011 von der Europäischen Union (EU) zugelassen. Dabei ist Rebaudiosid A etwa 300 bis 450 mal süßer als Rohrzucker, und Steviosid von der Süßkraft her etwa 250 bis 300 mal süßer als Haushaltszucker.
Das ist bitter: Steviol-Glycoside aktivieren bittere Geschmacks-Rezeptoren
Die Zunge ist „eine Welt voll Ungerechtigkeit“, doch nach Prof. Pude fühlen sich gerade Japans Köche mit den Stevia-Süßstoffen pudelwohl und „verleihen ihren Gerichten schon seit 25 Jahren mit Stevia-Extrakt die rechte Süße.“ Voller süßer Bitternis widmen sich weitere deutsche Forscher erbittert der Erforschung des bitteren Beigeschmacks. Neueste Studien zeigen, dass Steviol-Glycoside die beiden bitteren Geschmacksrezeptoren hTAS2R4 und hTAS2R14 unserer Zunge bitterlich beeinflussen (hTAS2R steht hier für humaner Typ-2-Geschmacksrezeptor). Dr. Anne Brockhoff vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) erklärt: „Der bittere Beigeschmack der Steviolglycoside entsteht, indem die Glycoside die beiden Bittergeschmacks-Rezeptortypen auf der menschlichen Zunge aktivieren“ – die Macht der Zunge ist für Stevia-Süßstoffe „eine Welt voll Ungerechtigkeit.“