Sieht man sich in seiner Umwelt um, wird man irgendwann auf Familien stoßen, in denen die Kinder völlig „aus dem Ruder“ laufen. Sie sind verhaltensauffällig, aggressiv oder sogar schon kriminell. Und als Außenstehender kann man sich das gar nicht erklären. Diese Kinder haben doch alles. Sie sind immer ordentlich angezogen, werden Zuhause scheinbar nicht geschlagen, sind Mitglied in Vereinen – leben also auf den ersten Blick in geordneten Verhältnissen. Von Vernachlässigung ist da keine Spur. Dabei wird aber übersehen, dass Kinder nicht nur physisch vernachlässigt werden können, sondern auch psychisch. Und das ist meist nicht so leicht zu erkennen.
Die Missachtung
In solchen Fällen strafen Eltern ihre Kinder für ihr angebliches Fehlverhalten sehr wirkungsvoll. Und dazu gebrauchen sie noch nicht mal körperliche Gewalt. Das Kind wächst in einem Umfeld auf, in dem jede Untat rigoros mit Missachtung bestraft wird. Es beliebtes Mittel elterlicher Wahl ist dabei das Schweigen. Die Eltern schweigen ihr Kind über längere Zeit – teilweise sogar über Tage hinweg – an. Damit demonstrieren sie ihre Macht und erzwingen die Folgsamkeit des Kindes. Denn für selbiges ist das stete Ignoriertwerden nur schwer zu ertragen. Es kann sich nicht gegen diese Situation wehren und beginnt deshalb die Schuld bei sich zu suchen, was von den Eltern ja auch beabsichtigt ist. Über Jahre hinweg wird daraus ein grausamer Automatismus, den die Kinder meist noch bis in Erwachsenenalter mitnehmen. Schweigen wird dann als Strafe gefunden, die man nur beenden kann, indem man um Verzeihung bittet.
Das Verwöhnen
Ein Kind zu verwöhnen mag auf den ersten Blick kein Zeichen von Vernachlässigung sein. Doch es kommt auf den Grund an, weshalb Eltern dies tun.
Betrachtet man die Gluckeneltern, erkennt man, dass sie mit dem Verwöhnen um die Liebe des Kindes kämpfen. Es fällt ihnen schwer, das Kind sich altersangemessen abnabeln zu lassen. Unbewusst führt dies bei den Kindern zu Aggression, da sie sich nicht entsprechend ihres Entwicklungsstandes verhalten können. Doch diese Aggressionen können sie nicht äußern. Denn das Verwöhnen der Eltern ist an eine Bedingung geknüpft: Unbedingte Dankbarkeit für ihre Aufopferung. Das Kind empfindet deshalb gleichzeitig Aggressionen und Schuldgefühle. Und gegen beides kann es mit seinen kindlichen Mitteln nichts unternehmen.
Eine zweite Sorte verwöhnender Eltern, verhätschelt das Kind, weil sie damit etwas wieder gutmachen wollen. Oft war das Kind nicht gewollt oder die Eltern hegen aus anderen Gründen negative Gefühle gegen den Nachwuchs. Doch ihr eigener Anspruch, nämlich gute Eltern zu sein, treibt sie dazu, die negativen Emotionen durch intensives Verwöhnen wett zu machen. Doch Kinder spüren, dass die vermeintliche Liebe nicht echt ist. Sie müssen für etwas dankbar sein, was ihnen nicht aus echter Liebe heraus gegeben wird. Dadurch entwickeln sich im Laufe der Zeit Schuldgefühle. Sie sind den Eltern nur eine Last und ihre Existenz ist eine Zumutung.
Die Kritiklosigkeit
Im Gegensatz zu den ersten beiden Vernachlässigungen wird hier gänzlich ohne Schuldgefühle gearbeitet. Die Eltern geben dem Kind stattdessen das Gefühl, eine übergroße Bedeutung für die Eltern (oft für die Mutter) zu haben. Es hat nie an etwas Schuld und wird auch nie dazu gezwungen, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Beim Kind führt diese Kritiklosigkeit irgendwann zu einer Art Größenwahn. Gleichzeitig lernt es aber auch nicht, sich in andere Menschen und deren Probleme hinein zu versetzen. Eine empathische Interaktion ist für ein solches Kind nicht möglich.
Die Folgen der seelischen Vernachlässigung
All diese Vernachlässigungen haben zur Folge, dass die Eltern-Kind-Beziehung gestört ist. Dem Kind fehlt das schon in frühster Kindheit gebildete Urvertrauen, da es keine bestätigende Bindung zu den Eltern aufbauen kann. Alles wirkt unsicher und von ihm nicht beeinflussbar.
Doch ist es den meisten Kindern nicht möglich, die emotional belastende Situation auf die Eltern zurück zu führen. Eine Kritik an deren Verhalten ist automatisch mit Schuldgefühlen verbunden, die ein Kind vermeiden möchte. Denn auch vernachlässigende Eltern werden von ihren Kindern bedingungslos geliebt. Das Kind wächst deshalb in einem Spannungsgefüge aus Unsicherheit, Aggression und Schuldgefühle auf, dass es mit in die Pubertät und meist sogar ins Erwachsenenalter nimmt. Die einen leiden still und nehmen die Situation stumm hin – einfach, weil sie es gar nicht anders kennen. Die anderen rebellieren: Suchen Zuflucht im Alkohol oder Drogen, schließen sich extremen Gruppierungen an oder werden kriminell.