Welche Rolle spielen psychische Erkrankungen in der evolutionären Entwicklung der Menschen? Sind sie mitverantwortlich für dessen Erfolg?
Zweifellos bedeuten psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, AD(H)S, Autismus, Depressionen oder bipolare Störung großes Leid für Betroffene und auch für deren Partner, Familien und Angehörigen. Nicht selten führen schwerere psychische Erkrankungen, insbesondere die Schizophrenie, zu Isolation, sozialer und vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Doch Genetiker gehen davon aus, dass psychische Erkrankungen eine bedeutende Rolle spielen, was die evolutionäre Entwicklung der Menschheit betrifft und wir es eventuell sogar diesen zu verdanken haben, dass wir Menschen an die Spitze der Evolution gelangten.
Warum sind psychische Krankheiten noch nicht ausgestorben?
Psychische Erkrankungen treten sehr häufig auf. Etwa ein Viertel der Bevölkerung, die in den Industriestaaten leben, leidet an einer schweren psychischen Erkrankung und circa die Hälfte wird im Laufe seines Lebens eine durchmachen. Ob jemand im Laufe seines Lebens psychisch erkrankt, wird zum Teil durch genetische Einflüsse mitbestimmt. Aber warum sind sie im Laufe der Menschheitsgeschichte nicht bereits ausgestorben, wenn sie das Leben der Betroffenen im schlimmsten Fall so stark einschränken können, dass diese weder am gesellschaftlichen Leben teilhaben, noch für sich selbst sorgen können und umfassend betreut werden müssen wie das in einigen Fällen von Schizophrenie oder Autismus der Fall ist? Deshalb gehen einige Wissenschaftler davon aus, dass die genetischen Veranlagungen, die psychische Erkrankungen begünstigen, auch Vorteile mit sich bringen.
Trieben Autisten die technologische Entwicklung in der Steinzeit voran?
Der Wissenschaftler Penny Spikins von der University of New York vermutet, dass zum Beispiel die beschleunigte Entwicklung von hochentwickelten Werkzeugen vor etwa 100 000 Jahren von Menschen mit autistischen Eigenschaften angestoßen wurde. Autisten sind gesunden Menschen oft überlegen, was Systematik und Präzision betrifft. Die Präzision und die Menge standardisierter technologische ausgereifter Werkzeuge, die um diese Zeit entstand, weist auf deren Erfindung von Menschen mit solchen Eigenschaften hin. Gleichzeitig gab es um dieselbe Zeit einen Entwicklungssprung im Bereich künstlerischen Schaffens.
Litten Schamanen unter einer bipolaren Störung?
Schamanen übernahmen die spirituelle Führerrolle in den Jäger- und Sammlergesellschaften. Dabei handelte es sich um äußerst kreative und ungewöhnliche Menschen, die teilweise in tranceartige Zustände gerieten, in denen sie die Stimmen von Geistern hörten oder ähnliche Symptome zeigten, die nach modernen Diagnosekriterien die Merkmale für eine bipolare Störung oder eine Schizophrenie erfüllen würden.
Kreativität und psychische Erkrankung
Es gibt mehrere Studien, die Zusammenhänge zwischen Genen belegen, die Schizoprenie und bipolare Störungen begünstigen, aber gleichzeitig auch für eine höhere Kreativität sorgen. Der Neurowissenschaftler Daniel Nettle von der Newcastle University konnte mit Hilfe einer Studie nachweisen, dass Künstler und Schizophrene ähnliche Eigenschaften aufweisen. Sowohl Künstler als auch Schizophrene neigen zu Wahnvorstellungen, Stimmungsschwankungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Viele berühmte Künstler und Schriftsteller litten unter einer bipolaren Störung darunter zum Beispiel Ernest Hemimgway, sie soll in dieser Gruppe sogar 10 bis 40 Mal häufiger auftreten, als in der Normalbevölkerung.
Durch eine Studie an der Vanderbilt Universität in Nashville konnte ebenfalls nachgewiesen werden, dass Menschen, die unter einer Schizotypen Störung litten, von der auch berühmte Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Isaac Newton und Vincent van Gogh betroffen gewesen sein sollen, mehr Kreativität beim Lösen von vorgegebenen Aufgaben zeigten. In der Studie sollten sich psychisch unauffällige Personen und als schizotyp diagnostizierte Personen zum Beispiel ungewöhnliche Dinge überlegen, die man mit Alltagsgegenständen wie Zahnbürsten, Essbesteck oder anderen Haushaltsgeräten anstellen kann. Die schizotypen Versuchspersonen zeigten sich beim Lösen dieser Aufgabe wesentlich kreativer. Jedoch bringt gerade die schizotype Störung besonders in schwerer Ausprägung auch erhebliche Nachteile für die Betroffenen bis zur seelischen Behinderung.
Frauen mit agressiven Zwangsgedanken im Wochenbett
Nicht wenige Frauen leiden unter einer Wochenbettdepression und in diesem Zusammenhang nicht selten unter schrecklichen Gedanken, ihrem Neugeborenen etwas anzutun wie zum Beispiel dieses zu Schütteln oder an die Wand zu werfen. Doch Katherine Wisner fand heraus, dass Frauen, die unter solchen schrecklichen Gedanken litten, besonders fürsorglich mit ihren Babys umgingen. Die Babys dieser Frauen, die dazu neigten, schreckliche aggressive Gedanken ihnen gegenüber zu entwickeln, hatten daher wegen dem damit einhergehenden fürsorglichen Verhalten eine höhere Überlebenschance, weswegen wohl auch die Neigung zu solchen Gedanken nicht austarb, sondern an die nächste Generation weitergegeben wurde.
Depressionen und AD(H)S
Das SERT-Gen, dass für die Regulierung des Serotoninspiegels sorgt, kann als lange oder kurze Variante beim Menschen auftreten. Es schützt die Träger der Kombination lang/lang vor Depressionen. Träger der Kombination lang/kurz oder kurz/kurz sind zwar anfälliger für Depressionen, allerdings sorgt es dafür, dass Menschen mit dieser genetischen Variante zu tieferen emotionalen Empfindungen fähig sind, wodurch sie in einer günstigen Umgebung ausgezeichnete kommunikative und soziale Fähigkeiten entwickeln können. Stress macht diese Menschen jedoch anfälliger für Depressionen.
Gleichzeitig positiv und negativ kann sich eine bestimmte Variante des Gens DRD4-7R auswirken, dass das Risiko beeinflusst, an AD(H)S zu erkranken. Es löst jedoch nicht nur AD(H)S aus, sondern sorgt auch dafür, dass Träger dieser Genvariante über einen höheren Energielevel verfügen als andere. Für Wandervölker wie zum Beispiel die Amazonas-Indianer bedeutete dies ein großer Vorteil, was sich auch an Untersuchungen zeigte, nach denen 80 Prozent von ihnen tatsächlich Träger dieser Genvariante sind.
Psychische Erkrankung und Pränataldiagnostik
Die Genforschung ermöglicht bereits heute bei einem Embryo festzustellen, ob aufgrund seiner genetischen Erbanlagen ein Risiko besteht, später an Schizophrenie, Autismus oder einem anderen psychischen Leiden zu erkranken. Aber sollte dieser wissenschaftliche Fortschritt tatsächlich dazu genutzt werden, Embryonen mit entsprechender genetischer Veranlagung auszuselektieren? Ganz abgesehen davon, ob so ein Vorgehen ethisch vertretbar wäre, könnte dieser vermeintliche Fortschritt sogar durchaus einen evolutionären Rückschritt bedeuten.