Gutes Training oder Lifestyle? – Was bringt das Gehen mit Stöcken? Nordic Walking gerät wegen ausbleibender Trainingseffekte in Erklärungsnot. Das Herz-Kreislauf-System und der Stoffwechsel werden zu wenig belastet.
Schätzungen besagen, dass in Deutschland etwa 3 Millionen Menschen regelmäßig Nordic Walking betreiben. Allerdings: Gehen an zwei High-Tech-Stöcken ist noch lange kein Nordic Walking! Die meisten der Stockgeher sind aber von der Perfektion ihrer innovativen Fortbewegungsmethode absolut überzeugt. Allein schon die durchschnittliche Trainingsdauer, Trainingshäufigkeit und Trainingsintensität lassen, von der oft unzureichenden Gehtechnik einmal abgesehen, nur minimale körperliche Anpassungsvorgänge zu. Die Lifestyle-Industrie und Sportverbände haben es mit ihren unzähligen Heilpredigern geschafft, viele der nach Gesundheit und Leistungsfähigkeit strebenden Menschen wahrhaft an den Stock zu bringen.
Als aus Finnland und vom hiesigen Leistungssport (Skilanglauf und Biathlon) das „An den Stöcken gehen“ in die Bereiche des Freizeit- und Breitensportes überschwappte, glaubte niemand, dass diese eigentümliche und nur wenig nutzbringende Fortbewegung so rasant Furore machen würde. Auf Park- und Waldwegen, Sportplätzen und Straßen hielt das ständige Geklapper der Gehhilfen seinen Einzug. Erstaunt rieb sich der Normalfußgänger die Augen und grübelte, weshalb gesunde Menschen jeden Alters und Geschlechts neuerdings an zwei Stöcken gehen. Befragte er die bestockt Dahin-Eilenden, so ließen sich alle Antworten nur im Begriff JUNGBRUNNEN zusammenfassen.
Hält Nordic Walking, was es verspricht?
Für absolute Anfänger und langjährige Abstinenzler sportlicher Betätigung stellt Nordic Walking eine sehr brauchbare Variante eines gesundheitlich unbedenklichen Einstiegs in den Freizeit- und Breitensport dar.
Besonders Übergewichtige, Rehabilitanden und Ältere identifizieren sich über die „schick aussehenden“ Stöcke gern als Sportler und verlieren so schneller ihre Hemmungen, sich sporttreibend in der Öffentlichkeit zu zeigen. Da die Sportgeräte außerdem im Gelände mehr Trittsicherheit vermitteln, Balanceakte und mangelnde Bewegungskoordination oder eine gestörte Motorik mindern, empfinden die Sportneulinge ihren Einstieg ins „bewegte Leben“ als gar nicht so problematisch.
Das Nordic Walking bietet jedem Interessenten die Möglichkeit zu entscheiden, ob er diese Sportart individuell für sich allein oder in einer Gruppe betreibt. Dies befreit von terminlichen Zwängen oder nutzt die Vorzüge des kollektiven Sporttreibens.
Mehr Sauerstoff beim Walking ermöglicht funktionierenden Stoffwechsel
Der Mensch nimmt bei Ruhe in 6 bis 9 Litern seiner Atemluft etwa 0,25 Liter Sauerstoff in einer Minute auf. Der flotte Nordic Walker kommt bereits auf das Dreifache und muss nun versuchen, diese Basisleistung durch mindestens 40 Minuten Training zu physiologisch notwendigen 30 Litern Sauerstoff werden zu lassen. Das bedeutet, Trainingsdauer und Tempo sind nach der gewünschten Sauerstoffvorgabe auszurichten.
Praktisch ausgedrückt müssen dazu 5 Kilometer in etwa 40-45 Minuten bei einer Pulsfrequenz nicht über 130 absolviert werden. Unter diesen Bedingungen beginnt der Jungbrunnen leicht zu tröpfeln, bis zum Rauschen muss jedoch bedeutend mehr getan werden.
Immunabwehr stärken durch Bewegung
Nordic Walking bringt Bewegung an frischer Luft, es werden viele Muskelgruppen aktiviert, auf niedrigem Niveau das Herz-Kreislauf-System trainiert, die Immunabwehr durch Abhärtung gestärkt, Erholung vom Alltags-Stress erreicht, neue soziale Kontakte geknüpft und eindrucksvolle Naturerlebnisse verinnerlicht – allein schon diese genannten Sachverhalte reichen aus, um die Sportart nichtleistungsorientierten Interessenten empfehlen zu können.
Nordic Walking und die perfekte Technik
Trotzdem muss man aus der Sicht gesundheits- und leistungsphysiologischer Aspekte die Frage nach der realen Effektivität dieser Sportart stellen, denn sie hat Kritiker wie kaum eine andere. Will man mittels Nordic-Walking trainingsrelevante Reize für das Herz-Kreislauf-System und den Stoffwechsel setzen, so müssen hohe Trainingsumfänge bei oftmals hohen Geschwindigkeiten absolviert werden. Dies setzt Jahre sich steigernden Trainings und die Beherrschung einer perfekten Gehtechnik voraus. Nur tägliches Training zwischen 10-20 Kilometern bei Pulsfrequenzen zwischen 130-160 lassen das genannte Trainingsziel erreichen. Die in vielen Veröffentlichungen angegebenen Belastungsdaten führen nicht zum erforderlichen Entwicklungsreiz, da sie zu unterschwellig sind.
Nordic Walking bringt keine Entlastung der Gelenke
Mehrere seriöse Studien aus dem In- und Ausland belegen unterdessen, dass die angebliche Entlastung der Gelenke des Bewegungsapparates, was immer als Vorteil gegenüber dem Laufen ins Feld geführt wird, durch den Stockeinsatz nicht erfolgt. Wenn der Nordic Walker mit hohem Krafteinsatz den Stützimpuls auf die Stöcke wirken lässt, werden die Beine zwar entlastet, dafür aber steigt signifikant die Belastung von Hand-, Arm- und Schultergelenken. Nicht selten führt das zu Verkrampfungen und Schmerzen, die Lockerheit im Bewegungsablauf lässt dadurch schnell nach.
Die muskuläre Entwicklung der Rumpf-, Schulter- und Armmuskulatur sowie die der Wirbelsäule nahe liegenden Muskelbereiche wird geringfügig verbessert, ohne jedoch gravierende Zuwächse zu erlangen. Verstärktes Training in bergigen Regionen, an Sandstränden oder im unwegsamen Gelände erhöht den Kraftgewinn jedoch spürbar.
Abnehmen mit Nordic Walking?
Um mit einem fast unschlagbar erscheinenden Argument hohe Zahlen an Nordic-Walking-Ausrüstungen verkaufen zu können, führen die Vertreter der Produzenten und der jeweiligen Sportverbände das schnelle „Abspecken“ als Hauptmotiv für diese Fortbewegungsart an.
Bei Einhaltung oben genannter Trainingsanforderungen und täglich reduzierter Kalorienaufnahme (oder bewussterem Essen) würde der Traum vieler, dem Schlankheitsideal Verfallener wahr werden – aber wer will sich täglich fast hungernd über Stunden hinweg „knüppeln“?
Obwohl unzählige Nordic Walker (mit rund 70 Prozent sind die Frauen in der Überzahl), vehement die tiefste Ruhe aus Wald, Wiese und Park vertreibend, für ihren Sport mit den Carbon-Stöcken klappern, wünscht sich der normale Spaziergänger wahrscheinlich, dass diese Art der Fortbewegung bald wieder zum althergebrachten Gehen oder Laufen mutieren möge. Einige Argumente geben ihm Recht. Für Sportneulinge ist das Nordic Walking ein unbedenklicher Einstieg in den Breitensport.