Orthorexie: Die gesündeste Krankheit der Welt.
Besser-Esser oder Zwangserkrankung? Wenn gesund essen krank macht. Lebensmittelskandale und Gesundheitsfanatismus haben eine Essstörung ins Leben gerufen. Orthorexie: der Zwang, sich gesund zu ernähren. Wie erkennt man Orthorexia Nervosa?
Gesunde Ernährung ist etwas, das uns heute in jeder Form und überall ans Herz gelegt wird: Viel Obst und Gemüse, wenig Fleisch, einmal die Woche Fisch – aber bitte den richtigen. Parallel dazu holen uns immer wieder Horrormeldungen ein von Pflanzenschutzmitteln in Tafeltrauben, von erhöhten Nitratgehalten im Feldsalat und Hormonbelastung im Mineralwasser. Ganz zu Schweigen von Acrylamid in Pommes und den ungesunden gesättigten Fettsäuren in Burger & Co, die uns Ernährungsexperten aber sowieso schon längst vom Speiseplan gestrichen haben. Hinzu kommen immer wieder neue Meldungen, dass man mit bestimmten Nahrungsmitteln oder Ernährungsumstellungen Krankheiten vermeiden oder gar heilen kann.
Was darf man überhaupt noch essen? Was soll man essen? Was ist wirklich gesund? Sich angesichts der sich häufenden Meldungen diese Frage zu stellen ist nicht ungewöhnlich.
Aber wenn gesunde Ernährung zum Zwang wird, kann daraus eine ernsthafte Störung entstehen: die Orthorexie.
Was ist Orthorexie?
Als Essstörung ist die „Orthorexia nervosa“ ein noch relativ junges Phänomen. Der Begriff Orthorexie (zusammengesetzt aus griech: orthós „der richtige“ und órexi „Appetit“) wurde 1997 von dem amerikanischen Arzt Steven Bratman geprägt.
Die Übergänge von einer gesunden Ernährung zu einer krankhaften Fixierung auf gesunde Kost sind fließend. Ähnlich wie bei Magersucht, die aufgrund des vorherrschenden Schlankheitsideals eine ganze Weile unentdeckt bleiben kann, ist es auch bei Orthorexie. Eine gesunde Lebensweise zu pflegen, auf die Quälität der Nahrung zu achten, ist schließlich durchaus ein lobenswerter Ansatz.
Was sind Anzeichen für Orthorexie?
- Wenn Mahlzeiten schon Tage im Voraus akribisch geplant werden und man sich mit deren einzelnen Zutaten genau auseinandersetzt.
- Wenn man mehrere Stunden täglich gedanklich ums Essen kreist und auch die Zubereitung lange Zeit in Anspruch nimmt.
- Wenn Lebensmittel in Raster von „richtig“ und „falsch“ eingeteilt werden.
- Wenn der tägliche Einkauf ein großes Unternehmen wird, weil man lange Umwege machen muss, um die „richtigen“ Lebensmittel zu kaufen.
- Wenn man sich über die Maßen mit den Inhaltsstoffen von Lebensmitteln beschäftigt: jede Verpackung auf Kalorien-, Cholesterin, Ballaststoff- und Fettwerte kontrolliert und prüft, welche E-Nummern bedenklich sind.
- Wenn Essen im Restaurant oder bei Freunden zum Problem wird, weil man sich vor den „unberechenbaren Zutaten“ fürchtet.
- Wenn Ernährungspläne zum Zwang werden und das Nichteinhalten zu schlechtem Gewissen und Versagensgefühlen führt.
- Wenn Essen immer weniger Spaß macht, weil man ständig über die Inhaltsstoffe grübelt. Wenn man sich mehr und mehr jeden Genuss versagt und Dinge meidet, die einem eigentlich schmecken.
- Wenn es zu Untergewicht kommt, weil der Ernährungsplan immer eingeschränkter wird.
Orthorexie – eine noch weitgehend unerforschte Krankheit
Einerseits kann man Orthorexie als eine Form der Essstörung bezeichnen, andererseits trägt sie auch starke Züge einer Zwangsstörung. Orthorektische Verhaltensweisen sind heute weit verbreitet – und die Medien haben daran keinen geringen Anteil. Häufig stecken hinter dem Versuch, sich extrem gesund zu ernähren auch tief verwurzelte Krankheitsängste. Ähnlich wie Anorektiker neigen auch Orthorektiker zum Perfektionismus: Kontrolle und Disziplin sind wichtige Säulen, die ihr Selbstwertgefühl aufrecht erhalten. Sie sind rigide im Umgang mit sich selbst – und meist auch mit anderen, denn nicht selten verspüren sie einen Drang, ihre Mitmenschen zu einer besseren Ernährung zu missionieren. Dadurch kommt es nicht selten auch zu sozialer Ausgrenzung.
Tatsächlich kann die „übergesunde“ Ernährung auch gesundheitliche Folgen haben: Mangelerscheinungen, Mineralstoffmangel, Schlaf- und Konzentrationsstörungen zum Beispiel. Am häufigsten betroffen sind gebildete Menschen zwischen 20 und 40, und anders als bei Magersucht, sind unter den Orthorektikern auch häufig Männer.
Doch ab wann ist gesund essen krank? Wenn das Essen das Leben dominiert und die Fixierung auf die „richtige“ Nahrung zum Leidensdruck wird, ist es Zeit, Hilfe zu suchen.
Psychologisch behandelt wird Orthorexie wie eine Essstörung. Die Betroffenen lernen zu einem entspannteren Essverhalten zurückzufinden, es sich wieder schmecken zu lassen und sich etwas zu gönnen – ohne nach den Gesundheitsaspekten zu fragen.